Ihr seid doch alle verrückt (Selbstgespräche)
Als ich als Jugendlicher in Kiel heranwuchs, fuhr ich so gut wie täglich mit dem Bus. Um Freunde zu besuchen, zum Fußballtraining (3 Jahre VfB Kiel), einfach in die Innenstadt, um dort die Holstenstraße immer wieder hoch- und runterzulaufen. Um Menschen zu beobachten, Klamotten oder Platten zu kaufen. Es war immer die Linie 34 und an der Haltestelle Kurt-Schumacher-Platz stieg immer ein Mann so um die 40 Jahre ein, der Selbstgespräche führte. Er unterhielt sich mit sich selbst, erzählte sich Geschichten, dokumentierte einfach, was er gerade sah. Manchmal erzählte er sich auch Witze, so classy Alltagsgags, und er lachte dann darüber. Wir Jungs nahmen das mit Befremden zur Kenntnis, „geil, Typ führt Selbstgespräche, kann ja nicht mehr alle Latten am Zaun haben!“. Wir nannten ihn den Selfspeaker und schauten immer schon aufgeregt aus dem Bus, ob er am Kurt-Schumacher-Platz wieder einsteigen würde.
Jeder ist ein Selfspeaker
Was wir damals nicht registrierten: Wir waren doch selbst alles kleine Selfspeaker. Wenn auch nur in unserem Kopf. Aber diese Stimme, die uns immer sagte, was wir mögen und wogegen wir Abneigungen hatten, wovor wir Angst hatten und was wir uns (meistens heimlich) vom Herzen wünschten, die war ja immer irgendwie da. Man schaute sich Filme an und die Stimme versuchte zu beurteilen, um was es in diesem Film ging und was er uns sagen soll. Auf dieser Basis entscheiden wir dann, ob der Film gut war und ob man ihn weiterempfehlen würde.
Abends im Bett, den Tag noch einmal Revue passieren lassen. Die Stimme spricht wieder mit uns. Erzählt uns, was gut gelaufen ist, auch was eher nicht so toll war und versucht Zukunftsprognosen auf Basis von bereits Erfahrenem zu erstellen. Manchmal mischt sich eine zweite Stimme mit ein, Stimme 1: „Oh, das hab ich nicht gut gemacht“, Stimme 2: „Ja, aber was hatte ich schon für Möglichkeiten?“, Stimme 3: „Stimmt ja alles, aber trotzdem muss ich das doch besser machen“. Immerhin in der ersten Person, viele Menschen reden in der zweiten Person mit sich, „Das hast DU nicht gut gemacht“. Ob der Selfspeaker auch drei Stimmen hatte, oder sogar mehr? Erste oder zweite Person? Oder vielleicht doch nur Eine, aber die hat er dann laut nach außen getragen?
Selbstgespräche – ein erstes Aufwachen
Zu erkennen, dass diese Stimme da ist, ist übrigens bereits ein erstes Anzeichen für ein kleines Awakening. Zu erkennen, dass diese Stimme Deine Gedanken auf Basis von Erlebtem interpretiert wäre ein weiterer Schritt. Und zu verstehen, dass Du diese Stimme nicht bist und dass Du dieser Stimme um Himmels Willen nicht immer glauben solltest, bringt Dich einen sehr großen Schritt weiter.
Viele Menschen leiden unter ihren Stimmen, also unter ihren Gedanken. Sie leiden unter ihrem eigenen Verstand, weil Gedanken Emotionen auslösen. Man liegt also wach im Bett, es ist halb vier Uhr morgens. Die Gedanken kreisen und reden Dir ein, dass es jetzt, um halb vier, wirklich nichts Wichtigeres gibt als ihnen zu folgen. Es sind aber keine schönen Gedanken, sie geben Dir ein schlechtes Gefühl, vielleicht sogar Angst. Dennoch folgst Du ihnen, schließlich bist das ja Du. Dein Leben. Hinweis: nein, eben nicht. Dein Verstand/Dein Ego verarscht Dich gerade. Ego ist Identität mit den eigenen Gedanken, hör mal bitte auf jetzt mit dem Scheiß.
Negative Gedanken
Übrigens gefallen Deinem freilaufenden, durchkonditionierten und von „Social“ Media restlos überforderten Verstand negative Ereignisse wesentlich besser, als Positive. Negative Gedanken vermehren sich deutlich schneller, die meisten Menschen laufen den ganzen Tag mit negativen Gedanken durch die Welt. Sie fühlen sich wohl in ihrer Opferrolle, „war ja klar, mir passieren immer schlechte Dinge, ich ziehe sie förmlich an!“. Ja, das tust Du auch. Weil Du genau so denkst, weil Du keinen Abstand zwischen Dir und Deinen Gedanken erschaffen hast, bzw. weil dieser nicht groß genug ist. Warum sitze ich wohl fast 3 Stunden pro Woche allmorgendlich aufrecht im Schneidersitz da und versuche, nicht zu denken?! Das funktioniert immer besser, man sagt das Maß für den Fortschritt auf dem Bewusstseins-Weg ist der Grad der Abwesenheit von Denken/Gedanken.
Nicht unterdrücken. Akzeptieren und loslassen.
Du solltest jedoch nicht versuchen, Gedanken zu unterdrücken, das klappt eh nicht. Beobachte sie und lass sie vorbeiziehen, wie Wolken am Himmel. Pack die Gedanken in Wolken, lass sie los und sei dabei nicht zu hart zu Dir, das braucht alles Zeit und Geduld. Ihr habt keine Ahnung, wie lange ich für so kleine Babysteps brauchte. Auch unglückliche Gefühle lassen sich nicht unterdrücken. Sie werden sich immer einen Weg suchen und ihn auch finden, im schlimmsten Fall durch regelmäßige Ausraster, zum Beispiel in Form von Panikattacken. Wie bei einem Wasserkessel, auf dem irgendwann zu viel Druck ist. Jede Panikattacke ist ein Schrei der Seele nach Wahrheit, Dein Körper und Dein Geist halten die Ego-Lüge einfach nicht mehr aus. Ein Schrei nach Befreiung von der Idee einer limitierten Person, einer Persönlichkeit. Du bist mehr als das.
Wer hingegen den Abstand zu seinen Gedanken, zu seinem Denkprozess durch tägliches Arbeiten vergrößert, wird irgendwann merken, dass sich das vermeintliche Unglück (was ja ohnehin nie real war) in Luft aufgelöst hat. Einfach nicht mehr da ist. Und das wünsche ich Jeder/Jedem von Euch weil sich diese Leichtigkeit wirklich ganz wundervoll anfühlt und weil Inner Peace einfach der einzige Luxus ist, für den es sich wirklich zu leben lohnt. Mein Selfspeaker ist übrigens immer noch da. Er ist inzwischen altersmilde geworden und wir sind jetzt endlich (wieder) Homies.